ICH
Ich wurde im blauen September in der Steinernen Stadt
am Strom geboren. Die Wolken segelten planlos über
den Himmel, der wie aus riesigen Putzkübeln über
eine grobe Leinwand geschüttet schien. Eine Brücke
spannte sich über den Strom von einem Stadtufer
zum anderen auf steinernen Pfeilern, ins Wasser gestauchte
Pylonen. Die Spatzen schilpten im Rinnstein. Die Tauben
auf dem Dach unseres Hauses gurrten vom Rand der grünspangesprenkelten
Dachrinne.
Die Großmutter, die mich nach meiner Mutter als
erstes zu Gesicht bekam, schrie entgeistert: „O
Jesses, o Jesses!"
„Ich kann mich nicht mehr erinnern", sagt
sie heute, alt wie ein Orakel, und wackelt mit dem Kopf
und den großen Ohren und der Teetasse, die sie
mit zitternden Händen zum zahnlosen Mund führt.
Das Gebiß ist immer in Gefahr, in die Tasse zu
stürzen und darin herumzuschwimmen wie ein gefräßiger
Piranha auf der Jagd nach Teekrümeln.
Die Großmutter ist eine Erscheinung: Sie zeichnet
sich aus durch originelle Würde und durch den grandiosen
Adel des Alters. Wie ein Orakel redet sie und sagt,
sie sitze und schaue den ganzen Tag in ein großes
Loch und sehe lauter kleine Gestalten darin, die gelebt
haben und immer noch leben und immer wieder von neuem
lebendig werden: Jason, der das goldene Vlies raubt,
und der junge Dr. Schädle, der Griechisch lehrt
am Alten Gymnasium in der Steinernen Stadt und mit einer
schönen Frau zusammenlebt, die aussieht wie Medea.
Kolchis ist näher als Regensburg. Gestalten, Geschichten.
Dann summt sie ein Lied.
Ihre großen Ohren lauschen den Worten nach, die
verklingen. Nachdenklich streicht sie sich durch das
schlohweiße Haar, hebt den Blick und schaut in
die Ferne. Wenn ihr jemand ins Wort fällt, spitzt
sie die Lippen und sagt, voller Protest gegen Gott und
die Welt, in scheinbar tiefer Entrüstung: .Unverschämt!"
und weil ihr das Kraftwort so gut gefällt, gleich
noch einmal: „Unverschämt, unverschämt."
Dabei blickt sie vergnügt und beinahe schelmisch
in die versammelte Runde.
,Ich war einmal eine Schönheit", flunkert
sie munter, „ich hatte die schönsten Kleider,
ich tanzte und ritt, die Männer schauten sich nach
mir um, die jungen Offiziere in ihren schmucken Uniformen,
küß die Hand, sagte der Rittmeister und reichte
mir seinen Arm."
Wenn sie erzählt, lehnt sie sich tief zurück
in den gepolsterten Ohrensessel, in dem sie thront wie
ein Gott aus dem späten Barock mit Allongeperücke,
gepudert, mit einem gemalten Leberfleck auf der Backe.
Neben ihr steht, stets griffbereit, der Spazierstock,
den sie nur noch benutzt, um damit gelegentlich wild
durch die Gegend zu fuchteln, quer über den Tisch,
so daß der Samowar auf die Damastdecke saust,
und ein Alpenveilchen betroffen darüberstürzt.
„Macht nichts", sagt sie und wischt sich
den Teesud vom Flanellkleid. Am Revers der graugewürfelten,
immer noch modischen Jacke steckt ein ausladendes Schmuckstück
wie ein Seestern aus Silber mit falschen Brillanten,
die wundervoll funkeln. Die Sonne geht unter.
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