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Wolf Peter Schnetz

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VERGISS DIE STADT DEN FLUSS DIE STEINE

Vergiß die Stadt, den Fluß, die Steine
Roman.
Regensburg: Mittelbayerische Druck- und Verlags-Gesellschaft 1994.
ISBN: 3927529354

 


ICH

Ich wurde im blauen September in der Steinernen Stadt am Strom geboren. Die Wolken segelten planlos über den Himmel, der wie aus riesigen Putzkübeln über eine grobe Leinwand geschüttet schien. Eine Brücke spannte sich über den Strom von einem Stadtufer zum anderen auf steinernen Pfeilern, ins Wasser gestauchte Pylonen. Die Spatzen schilpten im Rinnstein. Die Tauben auf dem Dach unseres Hauses gurrten vom Rand der grünspangesprenkelten Dachrinne.
Die Großmutter, die mich nach meiner Mutter als erstes zu Gesicht bekam, schrie entgeistert: „O Jesses, o Jesses!"
„Ich kann mich nicht mehr erinnern", sagt sie heute, alt wie ein Orakel, und wackelt mit dem Kopf und den großen Ohren und der Teetasse, die sie mit zitternden Händen zum zahnlosen Mund führt. Das Gebiß ist immer in Gefahr, in die Tasse zu stürzen und darin herumzuschwimmen wie ein gefräßiger Piranha auf der Jagd nach Teekrümeln.
Die Großmutter ist eine Erscheinung: Sie zeichnet sich aus durch originelle Würde und durch den grandiosen Adel des Alters. Wie ein Orakel redet sie und sagt, sie sitze und schaue den ganzen Tag in ein großes Loch und sehe lauter kleine Gestalten darin, die gelebt haben und immer noch leben und immer wieder von neuem lebendig werden: Jason, der das goldene Vlies raubt, und der junge Dr. Schädle, der Griechisch lehrt am Alten Gymnasium in der Steinernen Stadt und mit einer schönen Frau zusammenlebt, die aussieht wie Medea. Kolchis ist näher als Regensburg. Gestalten, Geschichten. Dann summt sie ein Lied.
Ihre großen Ohren lauschen den Worten nach, die verklingen. Nachdenklich streicht sie sich durch das schlohweiße Haar, hebt den Blick und schaut in die Ferne. Wenn ihr jemand ins Wort fällt, spitzt sie die Lippen und sagt, voller Protest gegen Gott und die Welt, in scheinbar tiefer Entrüstung: .Unverschämt!" und weil ihr das Kraftwort so gut gefällt, gleich noch einmal: „Unverschämt, unverschämt." Dabei blickt sie vergnügt und beinahe schelmisch in die versammelte Runde.
,Ich war einmal eine Schönheit", flunkert sie munter, „ich hatte die schönsten Kleider, ich tanzte und ritt, die Männer schauten sich nach mir um, die jungen Offiziere in ihren schmucken Uniformen, küß die Hand, sagte der Rittmeister und reichte mir seinen Arm."
Wenn sie erzählt, lehnt sie sich tief zurück in den gepolsterten Ohrensessel, in dem sie thront wie ein Gott aus dem späten Barock mit Allongeperücke, gepudert, mit einem gemalten Leberfleck auf der Backe. Neben ihr steht, stets griffbereit, der Spazierstock, den sie nur noch benutzt, um damit gelegentlich wild durch die Gegend zu fuchteln, quer über den Tisch, so daß der Samowar auf die Damastdecke saust, und ein Alpenveilchen betroffen darüberstürzt.
„Macht nichts", sagt sie und wischt sich den Teesud vom Flanellkleid. Am Revers der graugewürfelten, immer noch modischen Jacke steckt ein ausladendes Schmuckstück wie ein Seestern aus Silber mit falschen Brillanten, die wundervoll funkeln. Die Sonne geht unter.

© Pegasus Redaktion - Rea Revekka Poulharidou 2004